Wie sauber ist der Sport? Eine erschreckend hohe Dunkelziffer sexualisierter Gewalt und Übergriffe im Sport offenbarte die Studie “Safe Sport” der Sporthochschule Köln. Der Sport, vor allem der Spitzensport repräsentiert die Glorifikation von Leistung, Kampfgeist und der olympischen Familie. Helden werden nicht geboren, sie entstehen im Sport. Und dieser Heldenstatus ist unantastbar. Dabei spreche ich nicht nur von großen Sportlegenden, sondern auch von Lokalmatadoren oder im eigenen Verein äußerst beliebten und charismatischen TrainerInnen. Das Dilemma: Wer es wagt das Thema im eigenen sportlichen Umfeld anzusprechen, riskiert dabei selbst ausgegrenzt und diffamiert zu werden.
Wenn das Gewinnen zur Nebensache wird
Mein Hauptberuf ist Sportpsychologe. Darin beschäftige ich mich in erster Linie mit der Förderung von Leistungsaspekten im Leistungssport. Ich berate TrainerInnen, Eltern, SportlerInnen und ganze Teams. Das Training mentaler Kompetenzen zählt dabei zu einem meiner Spezialgebiete. Der Zweck des Ganzen ist es, AthletInnen auf Herausforderungen und extreme Drucksituationen vorzubereiten, damit sie am Tag X cool performen können. Egal ob GOLD, die Qualifikation für eine Weltmeisterschaft oder der Wechsel in das eigene Lieblingsteam. Vielleicht können sie eines Tages auch ihre sportlichen Träume verwirklichen.
Vor sportlichen Traum zum Martyrium
Der Sieg ist das Ziel, doch gewinnen ist nicht alles! Es gibt auch Themen und Leiden, bei welchen das Gewinnen in den Hintergrund gerät: Dazu zählen Karriereabbruchgedanken, schwere Sportverletzungen, körperlichen und seelischen Belastungen auch Konflikte innerhalb des Teams. Vor allem die Themen Ausgrenzung, Teamkultur und die Art der Kommunikation im Team versuche ich stets im Auge zu behalten.
Doch es gibt auch Themen, welche sich meiner Beobachtung entziehen. Subtile Themen und Formen von Gewalt, welche unsichtbar erscheinen. Nicht nur für das vertraute Umfeld, sondern auch für mich als Sportpsychologe. Ich spreche jetzt nicht von systematischen Mobbing und auch nicht von einmaligen Entgleisungen. Sondern ich möchte auf systematische sexuelle Übergriffe und sexualisierter Gewalt im “heiligen” System Sport hinweisen.
Ein Tabu-Thema
Doch da war doch was? Was war das denn noch mal?
Achja: “Darüber spricht man nicht!” – Sexuelle Gewalt und Missbrauch!
Sexuelle Übergriffe im Sport als traurige Realität
Im Rahmen meiner beruflichen Funktion als “Gewaltschutz Beauftragter” (Multiplikator) für den ASVÖ Wien sowie meiner Qualifikation zum Referenten zum Thema “Prävention sexueller Übergriffe und Gewalt im Sport” beschäftige ich mich seit Mitte 2017 mit der Thematik sexueller Übergriffe im Sport. Im Speziellen mit den Möglichkeiten der Prävention. Darüber hinaus halte ich seit Anfang 2018 auch Vorträge und Workshops im Auftrag der BSO in Zusammenarbeit mit dem Verein 100% Sport. Ein Verein, welcher gegründet wurde um gendergerechten Sport in Österreich zu fördern und um wirksame Maßnahmen zu setzen, dass sexuelle Übergriffe und Gewalt im Sport zur tragischen Ausnahme werden.
Kein Verband, kein Team und kein Trainer darf über das Leid eines Missbrauchsopfers gestellt werden!
Was ist diese sexuelle Gewalt?
Um die Tragweite sexueller Gewalt zu verstehen, ist es auch sinnvoll die Problematik struktureller Gewalt zu verstehen.
Ich spreche bei diesem Thema absolut nicht von sexuellen Beziehungen auf Augenhöhe, wie sie unter sich Liebenden natürlich ist. Und eben zur “schönsten Nebensache der Welt” werden kann.
Dies wird leider nachwievor verwechselt von Menschen, welche sexuelle Belästigungen am Arbeitsplatz oder auch sexuelle Übergriffe im Sport auf zynische Art und Weise lächerlich machen. Debatten und eine sachliche Auseinandersetzung werden damit entweder ins Extreme polarisiert oder weggeredet.
Die Problematik bei sexuellen Übergriffen versteckt sich bereits im Wort: Das Kernproblem ist nicht die Sexualität an sich, sondern eben der Übergriff. Ein Übergriff über Machtverhältnisse hinweg. Und Macht kann missbraucht werden!
Beispiel (erfunden, jedoch durchaus reales Szenario):
Wenn nun ein 23-jähriger Sporttrainer sexuelle Handlungen mit “seiner” 19-jährigen Athletin eingeht, ist dies zunächst kein Problem des Strafrechts. Der Trainer würde sich in diesem Fall in einer rechtlichen Grauzone bewegen. Doch dies heißt noch lange nicht, dass dies mit der Sportethik vereinbar ist. Denn immerhin herrscht zwischen den beiden ein Autoritätsverhältnis. Und dieses Machtungleichgewicht schafft auch psychische und emotionale Abhängigkeiten. Sollte jedoch ein klarer “Missbrauch des Autoritätsverhältnisses” (zwischen Trainer und Athletin) nachgewiesen werden, so kommt auch dann das Strafrecht ins Spiel!
Vor allem dann, wenn ein Trainer seine Athletin z.B. schon seit dem 12. Lebensjahr trainiert und darauf “wartet”, dass sie 18 wird, hebt sich der ethische Grenzübertritt nicht auf. Denn immerhin hätte der Trainer in diesem Fall viele Jahre Zeit “Vertrauen” aufzubauen und die Jugendliche mit System in ein Abhängigkeitsverhältnis hineinzumanövrieren. Und aus dieser Abhängigkeit könnte der Täter schalten und walten wie es ihm beliebt.
Der Leistungssport birgt auch spezielle Risikofaktoren für sexuelle Übergriffe. Neben der Körperlichkeit des Sports ist auch der Leistungsaspekt ein Abhängigkeits-Zugpferd. Es besteht die große Gefahr, dass der Täter (z.B. der Trainer) Ambivalenzen in diesem System aufbaut. D.h. der Trainer nutzt in diesem (hypothetischen, aber durchaus realen) Fall den sportlichen Lebenstraum der Athletin aus, um sich entgegen der Bedürfnisse der Athletin das zu “holen”, was er begehrt. Dieser Mechanismus geht so weit, dass der Täter die AthletIn unter Anwendung körperlicher Gewalt missbrauchen kann, ohne (zunächst) mit Konsequenzen rechnen zu müssen. Die Strategien von solchen Straftätern gehen sogar soweit, dass sie das Opfer über Jahre hinweg bedrohen und psychisch terrorisieren (emotionale Gewalt), dass das Opfer sich dann gar nicht mehr traut etwas zu sagen. Das Opfer befindet sich dann in einer Art “psychisches Gefängnis”.
Und wenn das Opfer dann doch etwas sagt, dann ist die Opfer-Täter-Umkehr jener psychische Skandal, welcher das Opfer in eine mental-emotionale Abwärtsspirale treibt. Wenn das Thema dann auch noch für das vertraute Umfeld TABU ist, dann sind Bagatellisierungen und eine Zuspitzung der Opfer-Täter-Umkehr die traurige psychologische Realität. Das große Schweigen setzt seinen Lauf. Der Selbstwert des Opfers kann in dieser Zeit einen enormen Schaden nehmen.
Von der Grauzone zum Gewaltakt
Wie dieses Beispiel zeigt, kann die rechtliche Grauzone, welche bereits ethisch verwerflich ist, zur “Einstiegsdroge” für spätere Straftaten werden. Denn wenn diese Abhängigkeiten verstärkt werden und Autoritätsverhältnisse (wie sie zwischen TrainerInnen und jugendlichen AthletInnen bestehen) missbraucht werden, dann steigt auch das Risiko sexuell orientierter Straftaten und der Täter mit den Übergriffen für lange Zeit durchkommt.
Welche Formen sexueller Gewalt herrschen vor?
Was verstehen Sie unter “sexueller Gewalt”? Es wäre nicht verwunderlich, wenn sie darunter sexuelle Handlungen mit Penetration unter Anwendung körperlicher Gewalt unter Missachtung der sexuellen Integrität und Selbstbestimmung des Opfers verstehen.
Doch die Bandbreite sexueller Gewalt ist größer. Wie vorhin bereits beschrieben ist bereits der Missbrauch eines Autoritätsverhältnisses (um das zu bekommen was der Täter möchte) bereits ein Akt der Gewalt. Dieser Missbrauch muss jedoch nicht zwingend mit sexuellen Handlungen einhergehen. So zählen auch folgende Verhaltensweisen zu sexualisierter Gewalt:
- sexualisierte Wortwahl
- verbales Abwerten einer Person über eine sexualisierte Sprache
- sexualisierte Gesten bzw. Handbewegungen
- Exhibitionismus bzw. Voyeurismus
- Vorzeigen und Aufzwingen von pornografischen Bildmaterial
Diskriminierung über verbalisierte sexuelle Gewalt
Wörter haben viel Macht und können dazu verwendet werden um Menschen zu schikanieren bzw. zu diskriminieren. Übliche Schimpfwortkategorien zur Entwürdigung von Menschen stammen aus dem Reich der Tiere (z.B. “fette Sau”) oder eben Schimpfwörter der Sexualisierung (z.B. “Schlampe” oder “Schwuchtel”).
Mit dem Missbrauch dieser Wörter werden nicht nur die Opfer hierarchisch schikaniert und entwertet, sondern auch eine ganze Tiergruppe (z.B. “Schwein”) oder sexuelle Neigungen (z.B. “Homosexualität”) werden damit in eine entwertete Ecke getrieben.
Wie evtl. bereits zu erkennen ist, richtet auch verbalisierte sexuelle Gewalt einen Schaden für Einzelpersonen und gleichzeitig mehrere Gruppen an. Als Sieger sieht sich dabei der Täter, welcher seine Machtposition auf Kosten Anderer, eben über das Mittel sexualisierter Gewalt ausbauen kann.
Dies kann auf Gruppenebene bzw. sogar auf gesellschaftlicher Ebene zu einer Ausgrenzung von Minderheiten und ganzen Volksgruppen führen. Wenn die Form der Gewalt eine Konsequenz des gesellschaftlichen Systems ist, wird auch von struktureller Gewalt gesprochen. Strukturelle Formen der Gewalt kommen dahingehend nicht nur in Regierungen, sondern sehr wohl auch in Sportorganisationen vor.
Kulturelle Gewalt im Sport
Wenn diese Form der Gewalt vom Staat, einem Verband oder Verein sogar als legitim angesehen werden würde, da diese mit den eigenen Ideologien vereinbar wäre, dann könnte man sogar man kultureller Gewalt sprechen. Dies bedeutet, dass wenn ein Sportverein oder TrainerInnen-Team die Schikanierung von AthletInnen mittels sexualisierten Wordings (z.B. “Beweg dich du fette Sau!”) nicht nur duldet sondern sogar verteidigt, dann hätte dieser Verein durchaus kein personales, sondern ein kulturelles Problem.
Denn die Anwendung derartiger “Motivationsmethoden” (erst im vergangenen Sommer meinte ein Trainer im Rahmen einer Veranstaltung zu mir: “Am besten motiviert man mit: Gib Gas du Hund!”) ist keineswegs mit trainingswissenschaftlichen (ja das habe ich ja auch mal studiert) oder psychologischen Argumenten zu legitimieren. Eine derartige Studie ist mir auch bis zum heutigen Tage noch nicht untergekommen, welche einen sonderbaren Leistungseffekt nachweist. Vielmehr hat sich dies einfach im Sprachgebrauch Vieler sowie in der Sportkultur etabliert. Diese Glaubenssätze gilt es aufzubrechen.
Das Problem dabei: Auch wenn ich jetzt als Sportpsychologe in einen solchen Verein gehen würde, kann es passieren, dass sich ein TrainerInnenteam oder auch Funktionäre im Ausleben ihrer “Sportkultur” bedroht von mir fühlen könnten oder Angst haben durch die Beschäftigung mit dem Thema “verdächtig” zu wirken. D.h. ich würde gar nicht die Möglichkeit bekommen mit so einem Verein bzw. TrainerInnen zu arbeiten.
Vom TABU zur Kultur des Hinsehens
Wie die Daten der Studie SAFE SPORT offenbaren, hängt die Häufigkeit von sexuellen Übergriffen und Grenzverletzungen nicht nur von frei Rumlaufenden TäterInnen, sondern auch von der Vereins- bzw. Verbandskultur ab. So ist die Zahl der Taten in Sportorganisationen geringer, in welchem eine Kultur des Hinsehens gegenwärtig ist.
Deshalb ist die Empfehlung der Studie Safe Sport fundierte Präventionsmaßnahmen zu setzen. Diese Maßnahmen richten sich an TrainerInnen, FunktionärInnen, BetreuerInnen und weiteren Angehörigen der jeweiligen Sportorganisation (Vereine, Internate, Leistungszentren, etc.) um diese zu sensibilisieren und zum Handeln im Anlassfall zu befähigen.
Aufklärung ist der nächste große Schritt um das Thema zu entabuisieren und offen damit umzugehen. Dies soll folgend eine Verbesserung der Sportkultur zu bewirken um das Risiko von sexualisierter Gewalt und Übergriffen im Sport zu senken. Damit Sport auch Sport bleibt. Eine sichere Zone für Jung und Alt.
Offizielle Anlaufstellen (in Österreich):
- Verein 100 Prozent Sport: 100sport.at
- Kinderschutzzentrum “Die Möwe” (Wien): die-moewe.at
- Frauenhelpline gegen Gewalt: frauenhelpline.at
- Männernotruf: maennernotruf.at
- Für ASVÖ Vereine (Wien): asvoewien.at
Die Broschüre “Für Respekt und Sicherheit” der Arbeitsgruppe Prävention sexualisierter Gewalt und Missbrauch im Sport findest du –> HIER
Quelle
Rulofs, B., Hartmann-Tews, I., Bartsch, F., Breuer, C., Feiler, S., Ohlert, J., Rau, T., Schröer, M., Seidler, C., Wagner, I. & Allroggen, M. (2016). Safe Sport. Schutz von Kindern und Jugendlichen im organisierten Sport in Deutschland. Sporthochschule Köln.